Herbst 1964. Ein Jahr ist nun schon wieder vorüber, seitdem ich von der NVA entlassen wurde. Zwei Jahre hatten wir „Freiwilligen“ stramm gedient, wir waren ja auch die letzten, nach uns kamen dann nur noch Wehrpflichtige. Die letzten Monate, Wochen..ja und dann nur noch Tage schleppten sich so dahin. Aber das ging auch vorüber und wir wurden wieder in die Menschheit entlassen.
Die Arbeitsstelle im Betrieb war vorhanden, ich fing wieder dort an, wo ich aufgehört hatte. Die Kollegen freuten sich, dass ich wieder da war. Doch ich spürte in mir eine Unruhe, es sagte immer jemand in meinem Innersten: „Du willst doch nicht etwa in diesem Betrieb versauern und tagaus, tagein die gleiche Arbeit verrichten?“ Nein, auf keinen Fall sollte das geschehen! Was aber tun, die Grenzen waren dicht, man konnte also nicht hinaus in die weite Welt, wie man es als junger Mensch ja so gern getan hätte. Dann spielte aber der Zufall – wie so oft im Leben – Schicksal. Beim Lesen der Leipziger Volkszeitung fiel mir eines Tages eine sehr große Anzeige auf. Mit dieser suchte der VEB Deutsche Seereederei (DSR) junge Menschen für eine Tätigkeit auf ihren Handelsschiffen. Unter anderem wurden auch Facharbeiter aus den Metallberufen gesucht. „Hallo“, sagte mein zweites Ich, „das wäre doch etwas für dich! Komm, traue dir etwas zu und schicke einfach eine Bewerbung nach Rostock“. Gesagt, getan und ab ging die Post an die DSR. Wer aber gedacht hat, nun geht alles ganz schnell und über Nacht bist du auf einem Schiff und fährst durch die weite Welt, der lag falsch. Wochen und Monate vergingen, ohne dass ich wieder etwas von meiner Bewerbung hörte. Jedoch in meinem unmittelbaren Umfeld geschahen recht seltsame Dinge. Meine Mutter wurde von verschiedenen Hausbewohnern gefragt, ob ich denn etwas ausgefressen hätte, da der Abschnittsbevollmächtigte (ABV) und „Polizisten in Zivil“ sich mehrmals über meine Person und den Freundeskreis erkundigt hätten. Natürlich machte sie sich Gedanken, ich konnte sie aber beruhigen, da ich mir eigentlich keiner Schandtat bewusst war. Wer konnte das aber so genau wissen!
Doch eines Tages war dann doch eine Nachricht bei mir eingetroffen. Ich wurde zu einem Gespräch in das Geschwister Scholl-Haus in Leipzig eingeladen. Zu dem angegebenen Termin hatte ich mich dann auch dort eingefunden. Ich war aber nicht der Einzige. Etwa 30 junge Leute meines Alters standen auf dem Gang vor dem angegebenen Zimmer und harrten der Dinge, die nun kommen sollten. Dann erschienen sie: zwei Herren in blauer Uniform, jeder einen Stapel Akten unter dem Arm. Sie betraten das Zimmer, wir folgten ihnen und nahmen an vorhandenen Tischen Platz. Nach der Begrüßung und Vorstellung teilten sie uns folgendes mit: „Die Bewerber, deren Namen wir jetzt vorlesen, kommen nicht für eine Tätigkeit bei der DSR in Frage. Sie können aber eine Bewerbung bei den Kollegen der Hochseefischerei im Nebenzimmer abgeben.“ Name um Name wurde verlesen und die Reihen lichteten sich. Zum Schluss waren wir noch fünf Personen. Dann verkündete man uns, dass wir jetzt den offiziellen Fragebogen ausfüllen sollen, den sie an uns verteilten. Das war schnell erledigt und wir wurden mit dem Hinweis entlassen, dass uns eine Antwort in der nächsten Zeit zugehen wird.
Nun begann eine Zeit des Wartens und der inneren Unruhe. Wann wird nun endlich die ersehnte Nachricht eintreffen? Jeden Tag war der erste Blick, als ich nach Hause kam, auf die Suche nach einem Brief von der Reederei ausgerichtet. Dann war es endlich soweit. Ein großer, dicker Brief lag in meinem Zimmer auf dem Tisch. Schnell geöffnet und die darin enthaltenen Schriftstücke studiert. Terminliche Vorgaben für die medizinischen Tauglichkeitsuntersuchungen in Leipzig und Halle bildeten den Inhalt sowie die Bitte um Freistellung durch meinen Betrieb zur Wahrnahme der Untersuchungen. Am nächsten Tag legte ich dieses Schriftstück dem Kaderleiter meines Betriebes vor. Der fiel aus allen Wolken, als er das Schreiben las, denn Arbeitskräfte mit einer guten Qualifikation waren damals sehr knapp. Aber was wollte er machen, zähneknirschend gab er mir seine Zustimmung. Gleichzeitig bekamen auch meine Kollegen von meinem Vorhaben Kenntnis, sie begrüßten meine Entscheidung. Aber sie wussten auch, dass sie mit meinem Weggang meine Arbeit zu übernehmen hatten. Aber noch war es ja nicht soweit.
Die medizinischen Untersuchungen waren dann auch schnell erledigt. Bei der Untersuchung in Halle traf ich auf einen Rotschopf, der ebenfalls das gleiche Untersuchungsritual über sich ergehen lassen musste wie ich, da er auch Bewerber bei der DSR war. Mit ihm verband mich später eine Kameradschaft, wie es sie eigentlich nur unter Seeleuten geben kann. Wenige Tage nach Abschluss der medizinischen Untersuchungen kam erneut ein Brief aus Rostock mit der genauen Vorgabe, wann ich meine Arbeit bei der DSR beginnen sollte. Nun musste alles sehr schnell gehen. Das Arbeitsverhältnis mit meinem Betrieb wurde ohne Probleme aufgelöst. Mit den Kollegen wurde im Gasthaus eine zünftige Verabschiedung gefeiert. Mein Meister, der Erich B. mit seinen 1,90 Metern, einem Lebendgewicht von über zwei Zentnern und Händen wie Klodeckel, setzte sich spontan an das Klavier im Gastraum. Was keiner ihm je zugetraut hätte, geschah. Er entlockte mit seinen Händen diesem verstimmten Instrument die schönsten Weisen. Ja und was wohl, natürlich Seemannslieder und alle Gäste stimmten mit ein. Das war dann doch für mich sehr bewegend, aber jeder Tag – so schön er auch war – geht einmal vorbei und so war es auch hier.
Ich finde es wirklich klasse, dass Sie sich all diese Mühe machen und die Informationen aufbereitet für uns präsentieren. Weiter so!